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Ist ganzheitliches Wirtschaften schon gefragt?

Autor: Christian H. Leeb

Stand: 13.10.2005

Heutiges Wirtschaften ist sehr stark geprägt vom eindimensionalen Fokussieren auf Share Holder Value, von auf Macht aufgebauten, inflexiblen Organisationsstrukturen, vom blinden Glauben an Technologie und von menschenverachtenden Vorgehensweisen zwischen ferner Kinderarbeit und Mobbing gleich um die Ecke. Wir leben und arbeiten mit den Mitteln des vorigen Jahrtausends, mit dem Hirn von Neandertalern in unseren Höhlen, die wir "Firmen" nennen.

Entwicklung zweier Pole
Wirtschaft und Gesellschaft unterliegen jedoch einem fundamentalen Wandel, nicht zuletzt durch Internet & Co, der Konvergenz der Medien und der Digitalisierung in weiten Bereichen unseres Lebens und Arbeitens. Dieser Wandel wird sich in der Wirtschaft in zwei Polen manifestieren, die aus meiner Sicht das Wirtschaften dazwischen immer schwieriger machen werden:

  • Produkte oder Dienstleistungen, die eineindeutig beschreibbar sind, sind mit Preisen im Internet anbietbar. Kunden werden direkt oder unter Zuhilfenahme von Software-Agenten das preisgünstigste Angebot kaufen. Für diesen Kauf ist keine Kommunikation zwischen Menschen erforderlich. Es gibt keinen Verhandlungsspielraum, die Prozesskosten dafür wären zu teuer. Die Preise liegen tief und nah beisammen.
  • Produkte oder Dienstleistungen, die erheblichen Erklärungsbedarf, Einzigartigkeit oder Einmaligkeit aufweisen, haben als Voraussetzung, dass sich Menschen austauschen. Dieser Austausch wird face-to-face sein, aber auch vielfältige elektronische Möglichkeiten zusätzlich nutzen.

Obwohl das Thema des ersten Pols auch sehr spannend ist, will ich es in diesem Dokument nicht mehr weiter beleuchten. Ich komme daher zum zweiten Pol.

Beim zweiten Pol geht es hauptsächlich darum, dass Menschen nur über die Beziehung und das aufgebaute Vertrauen verkaufen. Genauer betrachtet, ist es gar kein Verkauf mehr, sondern die Frage, in welcher Konstellation Menschen zueinander finden, die ein gegebenes Problem oder eine gegebene Aufgabe gemeinsam lösen oder erfüllen.

Es ist offensichtlich, dass dieses aktive Gestalten von Beziehungen nicht mit klassischem Verkauf und Vertrieb und mit Hochglanzprospekten funktioniert. Im Gegenteil: diese Art an den Kunden heranzutreten, ist vielfach kontraproduktiv und belastet ein Vertrauensverhältnis bzw. lässt ein solches gar nicht erst entstehen.

"Push & Pull" und "Inside-Out & Outside-In"

Unser Wirtschaften geht großteils davon aus, dass das anbietende Unternehmen das Produkt oder die Dienstleistungen „pusht“ und inside-out auf den Kunden zugeht. Diese Fokussierung auf sich selbst und nicht auf den Kunden blockiert von vornherein Beziehungen.

In Zukunft wird das jenige Unternehmen nachhaltig kommerziell erfolgreich sein, das es schafft, mit den Augen des Kunden, also outside-in auf das eigene Unternehmen zu schauen und das mit aktiver Gestaltung ein Szenario generiert, in dem sein Unternehmen und das des Kunden vorkommen, sodass ein gemeinsamer „Pull“ entsteht.

Glaube an den Wunderwerkzeugkasten
Wenn der Umsatz sinkt und die Deckungsbeiträge negativ werden, entsteht vielfach der Glaube an Lösungen durch den Einsatz von Werkzeugen. Wir analysieren, stellen Probleme fest und reparieren mit unseren Werkzeugen. Dieses Denken, dass Unternehmen wie Maschinen funktionieren und daher nur das richtige Werkzeug bei „Maschinenproblemen“ angewendet werden muss, sitzt sehr tief.

"Geiz ist geil"

Durch Werbung im Konsumgüterbereich wird uns eine Geiz-ist-geil-Mentalität eröffnet, die viele Menschen auch in ihr Arbeitsleben übernommen haben. Geiz-ist-geil funktioniert aber maximal beim oben genannten ersten Pol. Und zwar nur dann, wenn es um Einmalinvestitionen oder einfache Total Cost of Ownership (TCO)-Betrachtungen geht. In anderen Fällen ist auch hier dies kein Optimum: Wie oft haben wir uns selbst schon über scheinbar günstige Geräte geärgert, die dann entweder schnell kaputt geworden sind oder bei denen die laufenden Kosten sehr hoch waren.

In hochkomplexen Konstellationen des zweiten Pols funktioniert Geiz-ist-geil überhaupt nicht. Es anonymisiert die Marktteilnehmer und schwächt Beziehungen dramatisch.

In vielen heutigen Situationen ist dies auch erfahrbar. So ist die Methode, Tagsätze zu verhandeln, aus der Geiz-ist-geil-Mentalität erklärbar und bringt für keinen der Beteiligten etwas:

  • Gute Ideen brauchen oft gar keine Zeit. Sie tauchen „plötzlich“ auf
  • Schlechte Berater brauchen länger
  • Zeitaufzeichnungen werden „hingebogen“
  • Etc.

Wie wollen Sie diese Fälle jemals mit Zeit bewerten?

Vertrauen als Vorschuss, Spaß an der Arbeit

Unsere Wirtschaft funktioniert also noch vielfach nach den Paradigmen einer Maschine mit „inside-out“, „push“, Werkzeugglaube und „Geiz-ist-geil“. Viele Menschen sind in diesem System Täter und Opfer. Sie bilden zusammen eine perfekte Symbiose, die das System auch braucht um am Leben zu bleiben.

Und doch bin ich überzeugt, dass es Inseln im Wirtschaften gibt, auf denen das Vertrauen als Vorschuss, der Spaß an der Arbeit, die Anerkennung der spezifischen menschlichen Leistungen im Mittelpunkt stehen. Und zwischen diesen Inseln entstehen immer mehr Brücken. Das Netzwerk des ganzheitlichen Wirtschaftens wächst und wächst. Und das ist gut so.

Die Wirtschaft ist ein Netzwerk
Ein Wort gewinnt zunehmend an Bedeutung und wird immer öfter in der Wirtschaft verwendet: das Wort „Netzwerk“, und zwar im Sinne von Beziehungen zwischen Menschen und Unternehmen untereinander. In ihrem funktionalen, kausalen Ursache-Wirkungsdenken meinen viele, man könne diese Beziehungen managen.

Ich persönlich halte das für einen fundamentalen Irrtum. Beziehungen kann ich anstreben, mich darauf einlassen, sie genießen, mich um sie bemühen, und noch vieles mehr. Was ich jedoch nicht kann, ist, sie managen.

Dies ist auch gar nicht sinnvoll und außerdem auch nicht notwendig.
Netzwerke lenken nämlich den Fokus nicht auf die einzelnen Teile mit ihren Grenzen, die – Zahnrädern gleich – funktional nach genauen Regeln ineinander greifen, sondern auf das Gebilde als Ganzes.

Ich plädiere an dieser Stelle daher dafür, neben „Netzwerk“ auch das Wort „Ganzheitlichkeit“ einzuführen.

Aus dieser ganzheitlichen Perspektive ist die Wirtschaft nicht aus den Teilen, die wir Unternehmen nennen aufgebaut und diese wiederum aus den Abteilungen und diese aus Menschen und diese aus Rollen und Funktionen usw.

Es ist vielmehr so, dass jeder arbeitende Mensch, jedes Unternehmen bereits das Ganze, die Wirtschaft, in sich trägt. Das Unternehmen oder der arbeitende Mensch ist ohne das Ganze, die Wirtschaft, nicht sinnvoll denkbar. Die Wirtschaft als Ganzes wiederum ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Wirtschaft ist nicht deterministisch und vorhersagbar, und das einzelne Unternehmen auch nicht, und der einzelne Mensch auch nicht.

Scheinwelt
Wir haben nur die ganze Zeit so getan, als könne die Beschäftigung mit Businessprozessen und Workflow die Sicht auf das Unternehmen als Maschine aufheben, weil es mehr Dynamik suggeriert. Das Gegen­teil ist der Fall. Mit diesen Einstellungen wird das tayloristische Prinzip untermauert und gefestigt.

Wir haben nur die ganze Zeit so getan, als sei der Kunde ein funk­tionales Gebilde, das ich mit den Argumenten aus dem Prospekt oder eines psychologisch geführten Gesprächs dazu bringen könne, zu kaufen.

Wir haben nur die ganze Zeit so getan, als sei der Mensch reduzierbar als Ressource zu begreifen (die aus meiner Sicht widerliche Bezeich­nung „Human Resources“ lässt diese Einstellung durchblitzen), als könne ich Menschen wie Maschinen ein- und ausschalten, als wären die Finanzen die einzigen Parameter, nach denen sich Erfolg misst. Mit diesem Denken im Hinterkopf ist es natürlich nicht verwunderlich, dass MitarbeiterInnen über 50 in die Wüste geschickt werden, sind sie ja in den Unternehmensbilanzen nur hohe Kostenfaktoren. Das Wissen und die Erfahrung dieser MitarbeiterInnen scheinen ja in unseren Bilanzen nicht auf.

Eigentlich interessant: Bei den Maschinen sind wir großzügiger. Da bemühen wir uns die Nutzungsdauer zu überlegen und den Anschaff­ungspreis als Wert über Monate und Jahre in unseren Bilanzen zu verankern. Und noch erstaunlicher finde ich, dass wir dieses System, das ja von uns Menschen gemacht wurde, so menschenfeindlich bestehen lassen.

Wir könnten es doch jederzeit ändern.

Natürlich müssten wir uns dann fragen, wie wir die „Nutzungsdauer“ eines Menschen bewerten, auf wie viele Jahre wir ihn „abschreiben“ und wie wir durch Schulungsmaßnahmen den „Wert“ des Menschen erhöhen. Es klingt tatsächlich nicht sehr human, von „Nutzungsdauer“, „Abschreiben“ und „Wert“ in Bezug auf Menschen zu reden. Mit einer ausgesprochene Kündigung eines 50-jährigen signalisieren wir aber genau das: „Seht her, die Nutzungsdauer dieses Menschen ist in meinem Unternehmen erreicht, dieser Mensch hat keinen Wert mehr. Wir schreiben ihn zur Gänze ab.“ Hier können auch Sozialpläne, die übrigens selten sozial und noch seltener wirkliche Pläne sind, nicht darüber hinwegtäuschen.

Wie könnte es also sein?

Die neue Ganzheitlichkeit
Die neue Ganzheitlichkeit versteht sich menschenzentriert und menschenfreundlich.

Wenn Menschen in ihrer Kreativität, in ihrem individuellen Tun unterstützt und gefördert werden, dann erbringen sie Höchstleistungen. Management heißt dann Rahmenbedingungen dafür zu schaffen und zu erhalten.

Die wichtigste Rahmenbedingung ist Vertrauen.  Zeiterfassung und –Kontrolle kann wegfallen, Menschen gehen verantwortungsbewusst mit anderen und mit sich selbst um, Spaß hält wieder Einzug in unsere Büros.

Karriere definiert sich nicht durch hohes Schweige- und Schmerzensgeld und eine große Anzahl an Mitarbeitern „unter sich“ in einer Hierarchie, sondern durch monetäre und nicht monetäre Werte und durch Anzahl und Qualität der Verbindungen von und zu anderen Menschen im persönlichen Netzwerk.

Das Unternehmen begreift sich nicht als statische juristische Hülle für seine MitarbeiterInnen, sondern als lebender Organismus im Wirtschafts-Netzwerk.

Die klassischen Rollen „Kunde“, „Lieferant“, „Berater“, etc lösen sich vor dem Hintergrund von gemeinsamer Wertschöpfung und Aufteilen des Nutzens auf.

Wenn das alles so toll und sinnvoll ist, warum ist es nicht schon längst etabliert? Oder ist diese Skizze eine Utopie, ein verklärtes Romantisieren?

Ich bin immer wieder erstaunt über die Leidensfähigkeit von Menschen in Unternehmen und täusche mich auch regelmäßig in der Abschätzung der zeitlichen Dauer einer spürbaren Veränderung. Trotzdem glaube ich, dass es in diese Richtung geht, nicht zuletzt deshalb, weil immer mehr Menschen wieder Verantwortung über das eigene Leben übernehmen.

Und in dieser neuen Verantwortung werden immer mehr Menschen die für sie wichtigen Bedingungen und Rahmen definieren, unter denen sie bereit sind zu arbeiten. Sie sind die neuen Arbeitgeber und suchen sich ihre Unternehmen aus. Zumindest werden dies die besten Mitarbeiter­Innen so tun. Und wer will schon schlechte MitarbeiterInnen?

 

Ein weiterer Artikel von Christian Leeb: Web 2.0

 


Christian H. Leeb, http://sicherheitskultur.at/

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